Es ist der erste Tag nach dem Osterfest. Dem Fest, das für die Kirchen und Schokoladenhersteller sehr wichtig ist. Wir sind im Jahr 2020, dem Jahr, in dem wir mit COVID-19 SARS-CoV-2 unsere Erfahrungen sammeln. Deutschland befindet sich in einem Ausnahmezustand, ganz Deutschland.
In Mecklenburg-Vorpommern verweist das Ordnungsamt Menschen, die den Nachlass ihrer gerade verstorbenen Eltern regeln müssen. In Berlin kann man mitten am Samstag in trauter Zweisamkeit mit dem Tramfahrer bis zum Alexanderplatz kommen. Und vor den Baumärkten bilden sich lange Schlangen, in den Bundesländern, in denen diese geöffnet haben dürfen.
Was ist hier Phase?
Wir sind derzeit in der zweiten von voraussichtlich vier Phasen im Umgang mit der Pandemie.
Phase 1 war: Ignoranz. Es wird uns schon nicht treffen. Über diese Phase wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu sprechen sein, denn diese Zeit war weitgehend verschenkt. Auch durch Fehleinschätzungen der Zuständigen. Ist doch nur wie ’ne Grippe. Ja, stimmt. Aber eben eine, die noch niemand jemals hatte. Gegen die daher niemand immun sein kann.
Dann kam Webasto. Dann kam Gangelt. Und dann waren auch in meinem Umfeld zwei bestätigte Fälle. Es kamen die Tage, in denen das Testergebnis von Personen ausstand, mit denen ich Zeit verbracht hatte. Ehrlich gesagt: ein Scheißgefühl. Es war klar: die Testkapazitäten waren nicht da. Erst wurde der Mensch am einen Tag bei der Teststelle abgewiesen. Dann dauerte es eine Woche bis zum Ergebnis. Negativ.
Dann kam Phase 2: Maßnahmen. Das ist jenes Feld, in dem sich Politiker zuhause fühlen. Maßnahmen, Gesetze, Verordnungen, Anordnungen. Es ist keine Zeit für tiefgründige Analysen und Debatten, es wird beschlossen und gehofft, dass viel auch viel hilft. Einige schauen dabei noch auf mögliche Nebenwirkungen und gelten damit schon fast als Verhinderer. Und ja, die Zahlen sprechen dafür, dass es geholfen hat. Vorerst zumindest.
Was dabei unter die Räder geriet: die Begründungspflichtigkeit der Maßnahmen. Wer sich die (formale) Begründung der Änderungen zum Infektionsschutzgesetz durchliest, ist erstaunt, wie wenig dort an tatsächlichen Begründungen vorzufinden ist. Wer gar nach Begründungen für die jeweiligen Landesmaßnahmen sucht, wird regelmäßig noch mehr enttäuscht. Es gibt kaum Zahlen, kaum Daten, kaum Fakten. Eigentlich müsste es für jede einzelne Maßnahme eine klare Herleitung geben, warum sie notwendig ist, welche Wirkung von ihr erwartet wird. Das Prinzip Hoffnung regiert Coronadeutschland. Das ist nachvollziehbar, aber wird über die Zeit nicht richtiger.
Was wissen wir überhaupt?
Es sind Wochen, in denen ich mich oft wundere. Über Mitmenschen, oft ältere Semester, die weder Anstands- noch Abstandsregeln achten. Über zerrissene Flatterbänder an Spielplätzen. Über Menschen, die mit medizinischen Handschuhen spazierengehen. Aber haben sie nicht vielleicht sogar recht? Immerhin hat ihnen bislang keiner gesagt: Diese Maßnahme ist aus folgendem Grund genau richtig.
Die Schulschließungen basieren auf den Daten eines wissenschaftlichen Papers zu Maßnahmen US-amerikanischer Städte während der sogenannten Spanischen Grippe vor recht exakt 100 Jahren. Die Annahme, grob zusammengefasst: Schulen sind Verbreitungsorte, weil dort viele Menschen aus relativ vielen Haushalten über relativ lange Zeit auf relativ engem Raum miteinander Zeit verbringen. Dafür spricht einiges, auch aufgrund anderer Untersuchungen, zum Beispiel zur ’normalen‘ Influenza und Schulschließungen.
Aber: für was gilt das eigentlich noch? Welche Orte sind es, an denen dies sonst so ist? Kindergärten, Kindertagesstätten eventuell. Pflegeheime. Gottesdienste in Kirchen – wenn sie denn gut besucht sind – könnten darunter fallen. Großraumbüros. Clubs. Stadien. Kneipen, womöglich. Auch Biergärten, die Infektionsschutzregeln einhalten? Die Flaschenbier statt Krügen und Gläsern verkaufen?
Wir wissen derzeit herzlich wenig. Und die Verantwortlichen in der Politik wissen offenbar auch herzlich wenig, wenn man ihren Ausführungen in diesen Tagen lauscht. Wir wissen nicht, mit welcher Verweildauer von Personen bei welchen Bedingungen sich SARS-CoV-2 tatsächlich mit welcher Wahrscheinlichkeit weiterverbreitet. Wir wissen immer noch nicht, wie lange und wie sehr einmal Infizierte tatsächlich Immun sind. Wir wissen aber, dass wir ganz viel nicht wissen.
Dass die medizinische Schutzausrüstung nicht unendlich ist. Dass es gegen SARS-CoV-2 derzeit keinen Impfstoff und nur experimentelle Medikamentenanwendungen gibt. Und was wir vor allem wissen: dass Menschen mit mäßigem bis schlechtem Immunsystem und Herz-/Kreislauf-/Lungenvorerkrankungen überdurchschnittlich oft im Zusammenhang mit – nein, das heißt nicht unbedingt unmittelbar an – Covid-19 versterben.
Wir können (noch) nicht zum Normalzustand zurück…
Phase 3 ist die der sogenannten Lockerung, ich würde sie eher als Beibehaltung des Großteils der Maßnahmen unter Rücknahme einiger weniger bezeichnen. Beim derzeitigen tatsächlichen Wissensstand ist diese zwar kaum aus der Epidemie und den getroffenen Gegenmaßnahmen selbst erklärlich. Aber aus den Gesamtumständen: Die nach wie vor nicht sauber begründeten Maßnahmen sind nicht auf Dauer durchzuhalten.
Niemand kann für eine unbestimmte Zeit den Umgang mit Nicht-Haushaltsangehörigen verweigern, auch nicht der Staat in einer Corona-Pandemie. Vor allem dann nicht, wenn die konkreten Begründungen für solche Maßnahmen fehlen. Die meisten Menschen sind vernunftbegabt und verstehen, wenn man ihnen etwas erklärt, richten sich im Regelfall dann sogar danach. Aber: man muss es erklären können.
Jetzt bräuchte es daher sehr konkrete Konzepte. Wie halten wir ganz praktisch die Reproduktionszahl möglichst klein, ermöglichen zugleich möglichst viel wahrscheinlich vergleichsweise Unbedenkliches? Wie können die Maßnahmen auf ihre Auswirkungen geprüft werden? Können wir entsprechend unterschiedlicher regionaler Umstände auch unterschiedlich regional agieren? Warum sollte ein Landkreis, der tatsächlich längere Zeit keine Neuinfektionen mehr aufweist, nicht alle Maßnahmen aufheben dürfen? Wie sollen großflächige Testreihen durchgeführt werden, damit möglichst viele Fälle frühzeitig stufenweise erkannt werden können, bis endlich ein Impfstoff oder wenigstens wirksame Medikamente zur Verfügung stehen?
Mundschutz für alle und das Wiedereröffnen von Frisören, allerdings mit Auflagen wie Kundenlisten, das wäre der kleinste aller Ansätze. Er wäre eher ein psychologisches Signal. Auch das Wiederzulassen von Besuchen Nichthaushaltsangehöriger mit einer Besuchsbuchpflicht wäre natürlich möglich. Alles nichts, was mir gefällt. Aber besser als jetzt. Allerdings ist auch dies wieder ein wildes Stochern im Nebel: Dadurch, dass es keine ausgearbeiteten Begründungen, keine definierten Wirksamkeits-Annahmen gab, lässt sich nun auch nach Wochen kaum konkret auf Einzelmaßnahmen zurückführen, was wie gewirkt hat.
Ja, es ist auch ökonomisch eine Zumutung. Vor allem für jene, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind oder inzwischen waren. Und auch einige, die sich als gut gesicherte Existenzen betrachteten, sind unter Umständen mit einiger Wucht getroffen.
Daher geht es immer auch um Phase 4: Was kommt. Die Rechnung dafür wird erst später beglichen, ja, vor allem von jenen, die jetzt gute Überlebenschancen haben. Und nein, das möglicherweise erhöhte Erbschaftssteueraufkommen wird dafür wohl nicht ausreichen. Aber der Schutz von Menschenleben sollte viel häufiger als nur dann, wenn es unmittelbar in unserem eigenen Land von Bedeutung ist, bei politischen Entscheidungen eine Rolle spielen. Doch auch die Maßnahmen gegen SARS-CoV-2 kosten, und das nicht nur finanziell. Sie kosten politisch eine Menge, insbesondere in der bisherigen Wahrnehmung Europas in der Krise. Sie kosten gesellschaftlich eine Menge, denn das Vertrauen der Menschen ineinander ist beschädigt. Sie kosten aber auch den Staat und seine Politiker mit jedem Tag Vertrauen.
…aber zum politischen Normalzustand müssen wir jetzt dringend gelangen
Denn dass wir in diesen Tage nicht mehr über die Freiheit von, sondern nur noch über Schritte der Wiedererlangung von Freiheit zu reden müssen, das darf nicht der Normalzustand werden. Nicht das Handeln des Einzelnen ist begründungspflichtig. Sondern das Unterbinden, das Verbieten und Verweigern im höheren Interesse.
Es muss begründet und damit – auch juristisch, aber auch medial und von politischen Mitbewerbern – überprüfbar und infragestellbar sein. Dies muss auch in Krisenzeiten möglich bleiben, oder, wenn nicht unmittelbar möglich, so doch schnellstmöglich nachgeholt werden.
Wenn die Rationalität des politischen Handelns ein Opfer dieser Pandemie würde, in der die Populisten gerade – zu sehr hohen Kosten – entzaubert zu werden scheinen, wir hätten sehr viel verloren. Selbst wenn SARS-CoV-2 im Ergebnis erfolgreich eingedämmt würde.