Wenn die Ministerpräsident:innen sich heute mit der Bundeskanzlerin im Internet treffen sollen neue Maßnahmen beschlossen werden, um die Verbreitung von Sars-CoV-2 einzudämmen. Doch das, was in der Beschlussvorlage steht, wirkt, dezent formuliert, nicht gut durchdacht. Und ist in seinen Auswirkungen politisch hochgefährlich.
Weihnachten ist die Karotte, die derzeit vor der Gesellschaftsnase hängt: Wenn die Ausbreitung des Virus Sars-CoV-2 und damit der Covid 19-Erkrankungen nicht eingedämmt wird, dann werden strenge Maßnahmen bis in den tiefen Winter nötig sein. Jetzt kann man zu Weihnachten sehr unterschiedliche Sichtweisen haben, aber dass dieser Termin für viele Menschen in Deutschland von hoher Relevanz ist, lässt sich kaum bestreiten. Die ersten Maßnahmen, der Shutdown bestimmter Orte der Zusammenkunft einander fremder Menschen, scheinen zwar zu wirken, aber eben nicht in dem Maße, wie es nötig wäre. Die Kurve flacht ab, aber eben nicht ausreichend. Da ist es naheliegend, über ergänzende andere Maßnahmen nachzudenken. Doch das, was jetzt in der Beschlussvorlag für die Ministerpräsidentenkonferenz, gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, enthalten ist, das ist schon ein starkes Stück.
Denn im Kern der Maßnahmenvorschläge steht diesmal das Privatleben – insbesondere das von Kindern. Diese sollen nur noch einen festen Kontakt außerhalb der Familie treffen. Dass sie tagsüber in Schule und Kita ihre Freundinnen und Freunde treffen können, in Kita oder Hort mit diesen spielen dürfen, aber die exakt gleichen Kinder ihrer Bezugskohorte danach nicht mehr gleichermaßen treffen dürfen, ist einfach unlogisch.
Sodann sollen sich, so steht es in der Beschlussvorlage, nur noch zwei Haushalte miteinander treffen dürfen – der eine in vollem Umfang, der zweite aber nur mit maximal zwei Personen. Warum ist das in dieser Form untragbar? Weil beispielsweise Alleinerziehende mit zwei oder mehr Kindern damit einem de facto-Komplettkontaktverbot unterliegen würden. Das wäre für diese, eh bereits noch mehr als andere Konstellationen unter Stress stehenden, unverhältnismäßig und unangemessen.
Hier wird also erneut dort angesetzt, wo keine harten Interessen im Wege stehen: Weder wesentlicher finanzieller Aufwand noch eine relevante Zahl Wählerstimmen noch lauter politischer Gegenwind sind zu erwarten. Diese Gruppen haben schlicht keine effektive Lobby.
Fast noch undurchdachter wirkt ein weiterer Punkt: „bei jedem Erkältungssymptom“ (JEDEM) sollen sich Betroffene selbst 5-7 Tage in Quarantäne begeben. Das ist so hanebüchen, dass man sich fragt, wie so etwas in eine Beschlussvorlage kommen kann. Natürlich sollte jeder Mensch mit ernsthaften Krankheitssymptomen sich isolieren. Aber bei jedem Schnupfen präventiv eine Woche zuhause bleiben? Jede und Jeder? Was wäre die Folge?
Als erstes würden die Schulen entvölkert. Wenn jeder, dessen Nase läuft, nach Hause geht und dort eine Woche bleibt, ist es vorbei mit dem geregelten Schulbetrieb, ob Präsenz- oder Distanz- oder Hybrid- ist dafür egal. Dann haben wir einfach nur noch Chaos.
Und ja, die Lehrerinnen und Lehrer werden zu den ersten gehören, die zuhause bleiben. Doch sie werden nicht die einzigen sein. Sollen Ärztinnen, Kranken- und Altenpfleger auch zuhause bleiben, wenn sie einmal hüsteln? Wie schaut es aus mit jenen, die in der Apotheke arbeiten? Die den Laster fahren, der die Waren von A nach B bringt? Der Toilettenpapierauffüller im Supermarkt?
Ja, man kann auch mit relativ kleinen Federstrichen ein System zum Stillstand bringen und damit ins Chaos führen.
Nachdem bislang die Bundesländer schon regelmäßig keine gute Figur gemacht haben bei der Wirksamkeit der Seuchenbekämpfung droht nun etwas, das noch schlimmer ist: das Beschließen von Maßnahmen, die das Vertrauen der Bevölkerung verspielen und als einzelne Politiker wie als System des Föderalismus als strukturelle Versager aus der Pandemie hervorzugehen. Warum dieses ganz große Geschütz?
Erstens, weil nun der Privatbereich massiv in den Fokus genommen wird – während weiter gearbeitet werden soll, wie bisher. Es gibt das freundliche Ersuchen an die Arbeitgeber, doch bitte, bitte alle von zuhause arbeiten zu lassen, bei denen das technisch und organisatorisch machbar ist. Berichte aus dem ganzen Land zeigen, dass diese Freundlichkeit nur zu begrenztem Erfolg führt. Doch was ist die Folge? Nichts, einfach gar nichts. Würden Kontaktbeschränkungen ernst gemeint, wäre das ein vergleichsweise mildes Mittel, das einen großen Teil der Bewegungen und damit auch Kontakte im Land reduzieren helfen könnte. Und wie viele Fälle sind eigentlich bekannt, in denen die Maskenpflicht im Büro durchgesetzt wurde?
Zweitens, weil die Bundesländer tatsächlich von Mai bis September auf das Prinzip Hoffnung gesetzt haben. Weder sind die Gesundheitsämter durchgehend digitalisiert noch Kapazitäten aufgebaut worden. Weder sind Schulen, Schüler:innen und Lehrer:innen adäquat technisch ausgerüstet noch ernsthaft die Curricula auf Distanzunterricht ausgelegt worden noch sind die Schulen baulich mit allen möglichen Maßnahmen versehen worden – namentlich Luftfiltern und vollständig zu öffnenden Fenstern. Auch sind die Ordnungsämter und Polizeien nicht auf eine Durchsetzung der Coronaregeln vorbereitet worden. Bildung, Gesundheit und öffentliche Ordnung: das sind die originären Landes- und Kommunalaufgaben, all das sind Föderalismus und Subsidiarität bei der Arbeit. Recht, das kennen wir aus vielen anderen Bereichen, hat die Angewohnheit, dass es nur so viel wert ist, wie es zumindest ansatzweise auch durchgesetzt werden kann. Wir erleben gerade, und das ist sehr bedauerlich, dass Verantwortliche der Politik ihre – nicht unbegründeten! – immer schärferen Appelle erst in MPK-Beschlüsse und dann in Verordnungstexte gießen. Aber eine Durchsetzung durch öffentliche Stellen kann nur stichprobenartig, wenn überhaupt stattfinden. Das, was jetzt in der Beschlusslage steht, wäre Recht, das weitgehend nicht stattfinden kann.
Drittens sind die Lasten der Pandemie extrem ungleich verteilt. Es sind vor allem jene betroffen, die im Leben eh schon besondere Lasten tragen oder dazu noch überhaupt nicht in der Lage sind: Bewohner und Personal von Alten- und Pflegeheimen, Kinder, Alleinerziehende, Menschen mit Einschränkungen. Es wäre jetzt ausreichend Zeit gewesen, Konzepte zu erarbeiten, die unterschiedlichen Lebensrealitäten Rechnung tragen. Nein, Schüler in der Oberstufe sind beim Distanzlernen nicht vor die gleichen Herausforderungen gestellt wie Grundschüler, die noch Lesen lernen und qua Gesetz von einem Erwachsenen beaufsichtigt werden müssen. Nein, Schüler an Schulen für Menschen mit Hörschwierigkeiten sind bei Unterricht mit Maskenpflicht nicht gleichermaßen wenig beeinträchtigt wie normale Schüler. Nein, Alleinerziehende sind nicht in der gleichen Situation bei der Vereinbarkeit von Homeschooling und Beruf wie die deutsche Bilderbuchfamilie. Das alles wird auch in der Beschlussvorlage des Kanzleramtes schlicht ignoriert. Genau wie die konkrete Ausführung der jeweiligen Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der jeweiligen Maßnahme (die Älteren erinnern sich). Im Ergebnis wäre dieser Maßnahmenkatalog also leider strukturell unsozial, in weiten Teilen einmal mehr vor allem Buchstaben auf Papier und würde damit das Vertrauen in eine rationale Handlungsfähigkeit der Politik untergraben.
Wenn diese Maßnahmen also so kommen, dürfte den Betroffenen das politisch zuletzt für so bedeutend erachtete Weihnachten ziemlich egal sein. Weil sie bis dahin schlicht ganz andere Probleme haben.