Es sind viele Gedanken, die mir gestern Abend durch den Kopf gingen. Während Tom Bartels, der Sportschau-Kommentator, das Fußballspiel Deutschland-Frankreich kommentiert, während Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl nicht wissen, was sie sagen sollen, noch auf den Sportschau-Club hinweisen, dann wird nach einer kurzen Extra-Tagesschau wieder zu ihnen zurückgeschaltet. Sie sind hilflos.
Draußen passiert etwas. Es ist nicht klar, was genau, nur, dass es sehr, sehr laut ist – eine gute Viertelstunde nach dem Spielanpfiff der erste, etwas später der zweite Knall. Zur Halbzeit, um 21:45 Uhr, ist der französische Präsident außerplanmäßig aus dem Stadion verschwunden. Das sehen auch die Reporter. Aber Steinmeier bleibt, wenn auch nicht auf seinem Platz, so doch im Stadion. Also eine reine Vorsichtsmaßnahme? Was war mit den Detonationen? Sind die Hubschrauber am Himmel in Paris so unnormal?
„Paris, möglicherweise Anschläge“, das reicht seit spätestens Januar, seit Charlie Hebdo, um alle Hebel in Medien umzulegen: Ohren auf, Fokus, Bestätigung abwarten aber auf Ernstfall vorbereiten.
Auf 22:12 datiert die englische AP-Meldung, 22:17 twittert es Spiegel Online, 22:20 ist die deutsche AP-Meldung in den Tickern, 22:27 Eilmeldung DPA, 22:28 AFP deutscher Dienst. Dann überschlagen sich die Meldungen, fast im Minutentakt rauschen sie ein.
Wir sind gebeten worden, die Ehrentribüne dort auf keinen Fall zu verlassen, um nicht den Eindruck irgendeiner Unsicherheit zu erwecken, die im Stadion zu Panik hätte führen können.
sagt der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier heute im ZDF. Es gibt gute Gründe, eine Stadionpanik zu vermeiden. Ein Stadiongebäude kann sowohl Schutz (gegen Angriffe von außen) wie Falle (bei Angriffen oder Panik innen) sein.
François Hollande war also weg und irgendwann – da ist zumindest auf meinem Sofa bereits ausreichend klar, dass in Paris an mehreren anderen Stellen massiver Schusswaffengebrauch stattfindet – erklärte auch Tom Bartels seinen Zuschauern, dass es Berichte über Ereignisse rund um das Spiel oder zumindest parallel gibt. In der Liveübertragung im Fernsehen.
Ein Fußballspiel, das einfach weiterläuft, während dem Reporter mulmig ist. Irgendwann fängt Bartels an, zu sagen, dass er selbst nicht weiß, mit der Situation umzugehen – ein sehr starker Moment. Er ist Sportreporter, für ein Länderspiel in Paris. So wie seine Kollegen. Als er zum ersten Mal klar sagt, dass er eigentlich gar nicht mehr wisse, ob das, was er da kommentiert, heute überhaupt noch wichtig sein könne, bin ich mit ihm versöhnt. Aber nicht mit der ARD. Nicht mit dem ZDF. Nicht mit n-tv und N24.
Der geschätzte Kollege Udo Stiehl, Journalist und Nachrichtenspezialist, hat in einem langen Blogpost geschrieben, warum er die Anspruchshaltung, die ihm gestern auf Twitter und Co. entgegenschallte, für überzogen hält. Sein Kernargument: seriöser Journalismus braucht Zeit. Und damit Geduld, die er auch von Zuschauern/-hörern einfordert:
Diese Geduld müssen nicht nur wir aushalten, sondern auch Sie.
Ich denke: Ja, das stimmt. Und: Nein, da stimmt etwas nicht. Es ist eine Frage des Verständnis von Journalismus, wie er heute sein sollte. Nehmen wir an, dass die 8-9 Millionen Zuschauer des Länderspiels längst ihre Endgeräte gezückt haben. Sie haben entweder mal geguckt, was andere schreiben, versucht, mal herauszufinden wo der Hollande denn hin ist, was mit den Explosionen war… Ist es wirklich richtig, sie damit alleinzulassen, bis die Studioschminke sitzt, bis die Korrespondenten anrufbar sind?
Das lässt sich mit guter Begründung verneinen. Es muss nicht jede aufgeregte Meldung aufgegriffen werden. Aber soll Journalismus die Menschen nicht genau dann erreichen, wenn sie sich Fragen stellen? Ich meine: ja.
Früher wäre all das kein wirkliches Problem gewesen: die Menschen hätten sich nicht anders informieren können, solange es nicht gesendet oder gedruckt wird, ist es noch nicht passiert. Das stimmt heute aber nicht mehr: es ist vieles in den Smartphones bereits passiert, bevor es in den Medien kontextualisiert, verifiziert oder falsifiziert wird. Second Screen ist gerade in solchen Momenten eine geradezu natürliche Reaktion und ich denke, hier werden sich alle elektronischen Medien neu sortieren müssen, wenn sie ihre Hörer und Zuschauer in ihrer Lebensrealität abholen wollen. Die werden es sicherlich verstehen, wenn wir sagen:
„Nach für uns derzeit nicht nachrecherchierbaren und unseres Wissens auch nicht von einer zweiten, unabhängigen Quelle bestätigten Meldungen soll es in Paris zu mehreren Vorfällen mit Explosionen und Schusswaffengebrauch gekommen sein. Wir warten derzeit auf vertrauenswürdige Berichte vom Ort der Geschehnisse.“
Es muss und darf eben kein Voyeurismus sein, zu berichten, was passiert sein soll und wie das nun aufgeklärt werden wird, soweit es möglich ist. Und auch den Konjunktiv sollten wir nur mit großer Sicherheit verlassen.
Doch wenn wir nichts sagen, sagen wir nun einmal: nichts. Was den Raum für viel anderes, für Spekulation und Interpretation lässt. In den meisten Medienunternehmen und Anstalten arbeiten Profis, Profis, die auch Zurückhaltung können. Wer in der Lage von gestern Abend live drauf geht, statt viel Zeit ins Land ziehen zu lassen, ist damit Teil des öffentlichen Diskurses, mit Glück als Stimme der Vernunft, Zurückhaltung und damit als Dienstleister für jene, die in ihrem Lebensalltag nur selten Primärquellen einordnen müssen.
Nachtrag:
Sebastian Pertsch fragte mich auf Twitter, warum ich nicht auch noch konkrete Verbesserungs-Empfehlungen aussprechen würde. Die können aber nur exemplarisch sein, die ARD hat hier nur das Pech, dass sie an dem Tag in meinen Augen der primärzuständige für die große Menge Fußballgucker war. Hier das, was ich mir als mögliche Alternativen vorstellen kann:
- Zusammenfassende Kurzmeldung in einem Laufband während der Spielübertragung, Verweis auf Website, Videotext und auf Möglichkeit…
- Nutzung von Tagesschau 24…
- Fußballspiel-Degradierung in kleinen Bild-in-Bild-Screen für Sonderausgaben Tagesschau (1 Minute alle 10 Minuten)
Aber das ist, wie gesagt, nur exemplarisch gemeint, was beim Fernsehen gehen könnte, wenn man denn in so einer Situation dringend wollte. Wirklichen Fernsehexperten fällt da sicher noch mehr und besseres ein.
One thought on “Medien in Extremsituationen: Abwarten? Live drauf?”
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